Axel Hacke
Ein Mops
namens Walter
Der bekannte Autor und Kolumnist erinnert sich exklusiv in mobil
an den schönsten Urlaubsort seiner Kindheit.
Immer wenn die Sommerferien begannen, fuhr ich als Kind mit
der Bahn hinaus aufs Land. Meine Eltern hatten kein Auto, also setzten sie mich
in der Stadt allein in einen Zug, beklommen winkte meine Mutter mir nach, aber
ich war voller Zuversicht. Zwei Stunden später stieg ich an einem kleinen
Bahnhof in Westfalen aus. Dort wartete mein Onkel, er fuhr einen alten Mercedes;
auch die Zigaretten, die er rauchte, hießen Mercedes, weshalb für mich Wagen
und Zigaretten selbstverständlich zusammengehörten; ich dachte, sie kämen aus
derselben Fabrik.
Eine halbe Stunde später waren wir auf dem Bauernhof, und es
begann die schönste Zeit des Jahres.
Der Onkel hatte eine Frau, fünf Kinder [meine Cousins und
Cousinen] und sehr viele Tiere: Enten und Hühner, mit denen lauthals geschimpft
wurde, wenn sie nicht genug Eier legten, einen leicht erregbaren Puter, einen
Stall voller Schweine, eine Herde von Kühen, auch ein paar Schafe. Und eine
Katze, die es liebte, andere Tiere zu küssen.
Dazu später mehr.
An manchen Tagen lebte auch ein Mops namens Walter hier, er
kam wie ich aus der Stadt und gehörte einem ältlichen Fräulein, das sich an den
Wochenenden auf dem Hof einmietete.
Bevor ich Walter begegnete, hatte ich nie einen Mops
gesehen. Ich hielt ihn anfangs für ein kleines dickes Schaf und fragte meinen
Onkel, warum er diesem Schaf das Fell geschoren habe und den anderen nicht,
eine Geschichte, die seitdem bei jedem Familienfest erzählt wird.
Walter schnoberte den ganzen Tag auf dem Hof herum. Wenn man
in der Wiese lag oder in den Ästen eines Kirschbaums herumkletterte, hörte man
ihn nahen, schon von Weitem vernahm man sein Mopsgeräusch, ein röchelndes
Schnaufen. Sein Lieblingsplatz war ein kleiner Schrank in der Diele, den
bestieg er vom Treppenabsatz daneben, lag obendrauf und beobachtete die Welt.
Das bei Weitem eindrucksvollste Tier war ein Eber, der seinen Dienst in der
Schweinezucht versah, ein riesiges Vieh, in meiner Erinnerung so lang wie ein
Mittelklassewagen, ein Opel Eber sozusagen. Dieser Eber brach regelmäßig aus
dem Stall aus und verschwand in den Weidegründen, nach der großen Freiheit
suchend. Mein Onkel stapfte dann wütend hinter ihm her, einen Knüppel in der
Faust und trieb das Tier wieder in den Stall zurück.
Eines Tages stand ich mitten auf dem Hof, als der Onkel wieder einmal mit
dem Eber von den Feldern zurückkehrte. Das Vieh strebte, vom Knüppel
geschlagen, Richtung Stall, doch als er mich erblickte, änderte er die Richtung
und eilte auf mich zu. Ich wurde von Panik erfasst, rannte zum Wohnhaus,
drückte die Tür auf, raste die Treppe hinauf, heißen Eber-Atem im Nacken
fühlend, riss die Toilettentür auf, schloss sie von innen und schob einen Stuhl
vor dieselbe, den tobenden Eber draußen wähnend, der in Wahrheit längst im
Stall war.
Die Wochen waren voll von aufwühlenden Erlebnissen. Einmal ertrank ich um
ein Haar in einem Weiher im Garten; wir hatten von der Trauerweide am Rand des
Teiches Zweige schneiden wollen, um daraus Peitschen zu basteln. Damit wollten
wir abends die Kühe züchtigen, wenn sie von der Weide in den Stall trotteten.
Doch ich beugte mich zu weit vor und fiel ins Wasser. Die Cousins und Cousinen
holten den Onkel, der mich rettete, denn schwimmen konnte ich nicht. Nie werde
ich dieses Sinken im Wasser vergessen, währenddessen ich die Augen offen hielt
und die Wurzeln der Weide in den Teich hinein wachsen sah, seltsam, aber in
meiner Erinnerung hatte ich gar keine Angst. Ich sah nur diese Wurzeln und
versuchte sie zu fassen.
Meine Zeit auf dem Hof fiel immer in die Erntezeit. Eine Maschine wühlte
Rüben aus der Erde, dann bekam jeder von uns eine Forke, wir gingen hinter
einem Wagen, stachen mit den Forkenspitzen in die Rüben und warfen sie auf den
Anhänger. Wir pflückten Glaskirschen aus dem Bäumen. Wir sammelten Kamille, für
hundert Gramm bekamen wir zehn Pfennige. Das größte Ereignis war die Ankunft
des Mähdreschers, der Getreide mähte und Korn auf einen danebenfahrenden Wagen
spuckte.
Das Allergrößte aber: dass mich mein Onkel eines Tages auf einen Traktor mit
laufendem Motor setzte, mir die Gangschaltung und die Kupplung erklärte – und
mich anwies, mit diesem Traktor hinter seinem Traktor herzufahren, den Feldweg
entlang. Ich war dreizehn, thronte hinter dem Lenkrad und war stumm vor Glück.
Abends erzählte der Onkel Geschichten, wie jene vom jüngsten Cousin, der,
als er zum ersten Mal mit in die Stadt fuhr, auf dem Bürgersteig jeden dort
Gehenden grüßte, weil er das vom Dorf so gewöhnt war: Man grüßte immer.
Und einen Nachbarn gab es, einige Kilometer weiter, der kam nachts betrunken
nach Haus, wie so oft. Seine Frau aber hatte die Tür verschlossen; er schrie,
sie solle öffnen, sie öffnete nicht. Da rief er, er werde in den Teich springen
und ein Ende machen, wenn sie nicht öffne. Sie öffnete immer noch nicht. Er
warf klatschend einen Steinbrocken in den Teich, da kam die Frau gelaufen,
suchte den Mann im Wasser. Der schlüpfte ins Haus und schloss seinerseits ab.
Da ging seine Frau weg und kehrte nie zurück.
Walter, der Mops, setzte gern den Hühnern nach. Einmal verfolgte er eines
bis zum Stall, doch war das Huhn schneller und floh ins Hühnerhaus. Der Mops
wollte hinterher, schlüpfte durchs Loch der Stalltür, aber sein Hintern war zu
breit. So blieb er stecken, jaulte, schnaufte und röchelte, bis wir ihn
herauszogen.
Auf seinem Schrank liegend erholte er sich, doch nicht bald darauf hörten
wir aus dem Treppenhaus ein Rufen, Schreien, schließlich Kreischen. Als wir ins
Haus rannten, kam uns schon das Fräulein entgegen, wie von Furien gehetzt. Und
tatsächlich: Es hetzte sie eine Furie, ihr eigener Mops nämlich, der sich mit
den Vorderpfoten in ihren Haaren verfangen hatte und nun auf dem Kopf der alten
Dame stand, während sie heulend im Kreis rannte. Ganz offensichtlich hatte sich
das Fräulein in der Diele die Haare gerichtet und ihren Walter nicht gesehen,
der neben dem Dielenspiegel auf gewohntem Schrank-Posten gelegen, neugierig
nach ihren Haaren gelangt und sich dabei in ihnen verfangen hatte. Mein Onkel
befreite die beiden voneinander.
Von der Katze wollte ich noch erzählen, die so gern andere Tiere küsste. Sie
schlief nicht selten im Stall, auf dem Rücken einer bestimmten Kuh, die wenig
dagegen hatte – und wenn die Katze geruht hatte, spazierte sie auf dem
Rinderrücken nach vorne, küsste ein Ohr der Kuh und sprang hinab; oft habe ich
das gesehen.
Eines stillen Nachmittags, es regnete heftig, ich saß auf der breiten
Holztreppe des Bauernhauses und schaute durchs Fenster den Regentropfen zu, die
draußen im Hof auf der Erde zerplatzten, an diesem Nachmittag also sah ich, wie
die Katze zu Walter auf den Schrank sprang. Der Mops schien zu schlafen, er
keuchte und schnarchte vor sich hin, als die Katze leise um ihn herumschlich,
ihn sinnend zärtlich betrachtete und ihm dann – ich schwöre es – einen Kuss auf
die Wange drückte.
Weiter geschah nichts, außer, dass Walter träge ein
Auge öffnete und mir zuzwinkerte.