Samstag, 29. Oktober 2016

Im Zug gelesen II

Mit dem Zug nach Leipzig, fast allein mit dem mobil Magazin der Bahn AG: Zeit zum Lesen- ich bin auch schon ein Opa!


Thilo Mischke trifft jeden Monat besondere Menschen im Zug. Diesmal:



DER OPA


Meine Großväter habe ich nie kennengelernt. Meine Opa-Generation hat noch ohne Sorge geraucht und dachte, gegen Husten helfe Cognac. Vermutlich ist diese Lebenseinstellung ein Grund für ihr frühes Ableben. Warum ich das erzähle: Wenn ich alte

Männer treffe, habe ich etwas Angst. Opas wähnen sich offenbar in der Pflicht, ein Hemd zu tragen, sie sind rasiert und haben, auch wenn ihnen oft die Haare dazu fehlen, eine Frisur. Sie machen mir Angst, weil ich mit solchen Männern nicht sozialisiert wurde.

Daneben nun ich, der nur ein Hemd besitzt, für gute Anlässe. Ich rasiere mich, wenn der Bart in die Nase sticht, und eine Frisur: nur im Notfall. Mir sitzt so ein perfekter Opa gegenüber. Ein wohlhabender, schätze ich, er trägt einen mauvefarbenen Pullunder. Schlichte, flache Uhr, ohne Ziffern. Auf seinem Schoß ein Buch, auf dem Tisch ein Notiz- heft. Er trägt eine randlose Brille. Der Gesamteindruck: Arzt a. D.

Wir kommen ins Gespräch. Er: früher Rechtsanwalt, jetzt Rentner. Noch viel früher: die wilden Siebziger, die RAF, Freiheit, Muff und Talare und so weiter. Er erzählt lebendig, der Pullunder wirft Falten.

„Sahen Sie immer so ordentlich aus?“, frage ich und hebe die Hand, zeige respektvoll auf seine Kleidung. Er lacht. Saubere, gerade, weiße Zähne. „Nein, natürlich nicht“, sagt er, „aber das machen wir alten Männer.“ Er zeigt auf mich. „Sie können einen ungepflegten Bart haben, Sie können auch Haare haben, die mich an ein aufgerissenes Sofakissen erinnern. Aber auch Sie werden mal alt.“ Das klingt nicht danach, als wollte er mir Angst einjagen, eher nach einem Arzt, der mich beruhi- gen will. Alt werden, es zwickt kurz.

„Wenn wir jung sind, dann sind wir schön und laut“, sagt er. „Sobald die Haare ausfallen, der Bauch weich wird, müssen Ablenkungsma- növer her.“ Ich denke kurz nach, sage dann: „Ein mauvefarbener Pullunder. Rasiert und parfümiert.“ Er nickt. Und lächelt. „Sie, in Ihrer Jugend, haben im Blick, dass alles möglich scheint. Ich habe meinen Geschmack. Meine Bildung und Erfahrung. Das ist viel, aber man sieht es nicht. Es sei denn, man zieht sich ordentlich an.“

Manchmal hätte ich gern Opas gehabt, die weniger geraucht und getrunken hätten.